Die Welt ist sich einig: Die Zukunft ist klimaneutral.
Die Welt ist sich einig: Die Zukunft ist klimaneutral.
Dass etwas anderes auch alternativlos wäre, zeigen die jährlichen Weltklimaberichte mit ihren Szenarien aufs Deutlichste. Europa wird das bis 2050 sein, Deutschland bis 2045, so der Plan. Den Städten kommt für die Umsetzung dieses Ziels eine Schlüsselrolle zu. Hier laufen alle Fäden zusammen. Gleichzeitig ist der Sektor Gebäude einer der größten CO2-Emittenten. Führt man beides unter dem Dach des Klimaschutzes zusammen, landet man bei der Entwicklung klimafreundlicher Quartiere.
Etwas weniger klar ist jedoch, wie dieser Weg in die Klimaneutralität gelingt. Die Herausforderung beginnt schon beim Begriff. Klimaneutralität meint im Grunde die Balance zwischen CO2-Ausstoß und CO2-Senke. Doch wo wird die Bilanzgrenze gezogen? Und was gilt als CO2-Senke? Nicht selten werben Unternehmen mit klimaneutralen Prozessen oder Produkten, die das eigentlich gar nicht sind [1]. Es mangelt an Transparenz. Die Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) setzt sich dafür ein, dass Gebäude und ganze Quartiere nachhaltig entwickelt, gestaltet und betrieben werden. Gerade in Hinblick auf den Klimaschutz ist sie um klare Definitionen und Transparenz be-müht. Sie liefert konkrete Handlungsempfehlungen für lebenswerte und zukunftsfähige Quartiere, die im Einklang stehen mit Menschen, Umwelt – und den Klimaschutzzielen.
Auf etwa 60 Seiten erklärt die DGNB in ihrem Rahmenwerk [2], was zu tun und worauf zu achten ist, damit Gebäude klimaneutral werden. Sie definiert, wo die Grenzen zu ziehen sind, welche CO2-Emissionen berücksichtigt werden müssen und was die Zielsetzung ist. Für den klimaneutralen Betrieb ergibt sich folgende Definition:
„Ein Gebäude ist auf ein Jahr hin betrachtet dann klimaneutral im Betrieb, wenn die Treibhausgasemissionen des Energiebezugs kleiner sind als die vermiedenen Treibhausgasemissionen durch Eigenproduktion erneuerbarer Energie und deren Einspeisung ins Netz.“
Der Definition liegt eine Reihe an Regeln zugrunde. So wird neben der Gebäudeenergie für Wärme und Strom auch die Haushalts- oder Nutzerenergie berücksichtigt. Alle Energieträger werden mit den tatsächlich verursachten CO2-Emissionen betrachtet.
Als Gutschrift gilt ausschließlich auf dem Grundstück generierte überschüssige erneuerbare Energie. CO2-Zertifikate sind nicht ansetzbar. Damit soll die CO2-Vermeidung aus eigener Kraft gefördert werden, Gebäude sind als kleine Kraftwerke zu verstehen.
Zur ganzheitlichen Denkweise gehört allerdings, Gebäude nicht nur im Ist-Zustand zu betrachten, sondern über den gesamten Lebenszyklus, also auch in die Vergangenheit und die Zukunft zu blicken. Denn bereits bei der Herstellung und Errichtung von Bauwerken entstehen sogenannte graue oder verbaute CO2-Emissionen. Und auch dann, wenn das Gebäude in einer weit entfernten Zukunft zurückgebaut wird. Auch diese CO2-Emissionen gehören bei Neubauprojekten in die Betrachtung mit rein. Klimaneutral über den Lebenszyklus darf sich laut DGNB Definition ein Gebäude oder Quartier also dann nennen, wenn auch die verbauten CO2-Emissionen rückwirkend über einen klimapositiven Gebäudebetrieb ausgeglichen wurden.
Die zunehmende Bekanntheit von CO2-Bilanzierungen ist ein Grund, warum sich nachwachsende Rohstoffe wie beispielsweise Holz großer Beliebtheit erfreuen. Denn Pflanzen speichern Kohlenstoff während ihres Wachstums und gehen damit als CO2-Senke in die Bilanzierung ein. Die DGNB plädiert dennoch für einen differenzierten Umgang mit allen Baumaterialien [3], da sie Vor- und Nachteile bei der Verwendung haben. Zudem sollten auch andere Potentiale zur CO2-Einsparung wie etwa das Recycling oder materialgerechte Konstruktionsweisen und Technologien genutzt werden. Grundsätzlich gilt: An erster Stelle sollte immer das Prinzip der Suffizienz stehen, das nach der Genügsamkeit fragt und dem, was wirklich gebraucht wird. Können Gebäude beispielsweise erhalten werden, anstatt sie abzureißen und neu zu bauen, ist das ein viel größerer Hebel als die Wahl eines klimaschonenden Baustoffs.
Der Blick auf den Bestand macht auch deutlich, warum die Denkweise weg vom Gebäude hin zur Quartiersebene so wichtig ist. „Im Bestandsquartier haben wir oft Denkmalschutz mit drin“, sagt Johannes Kreißig, Geschäftsführender Vorstand der DGNB. „Beim Kölner Dom können wir kein PV auf das Dach machen und das ist auch nicht erforderlich.“
Solitär betrachtet stehen unter Denkmalschutz stehende Bauwerke in Sachen Klima also nicht gut da, im Quartier jedoch kann dies oft ausgeglichen werden. Neue Gebäude können so errichtet werden, dass sie mehr Energie erzeugen als sie verbrauchen und den Überschuss an die älteren identitätsstiftenden Gebäude „abgeben“.
Darüber hinaus bietet der Quartiersansatz die Möglichkeit erneuerbare Energien, wie beispielsweise großflächige PV-Anlagen über Parkplätzen, effizienter zu nutzen und Anlagen sowie Speicher optimal zu betreiben. Quartiere nehmen für Klimaschutz im großen Stil also eine Schlüsselrolle ein. „Die Hebel sind einfach um ein Vielfaches größer. Hier werden frühzeitig Entscheidungen zugunsten des Klimaschutzes getroffen, die sich langfristig auf Gebäudeebene auswirken“, sagt Thomas Kraubitz. Der Stadtplaner und Direktor für das Thema Städte und Nachhaltigkeit bei Buro Happold spricht aus langjähriger Erfahrung. Auch als DGNB-Auditor hat er schon eine Vielzahl an nachhaltigen Quartiersprojekten begleitet. „Wenn man ein Quartier um nur fünf Prozent verbessert, hat man mehr erreicht als eine Elfenbeinmaßnahme auf Gebäudeebene.“
Worauf aber kommt es konkret an bei der Planung eines klimaneutralen Quartiers? Das Must-have ist laut Kraubitz ein integriertes Energiekonzept. Dazu ist es erforderlich, dass die Experten aus der Gebäudetechnik, der Infrastruktur und der Mobilität frühzeitig zusammenkommen, wie es auch das Zertifizierungssystem der DGNB fordert. „Das ist heute noch immer nicht Standard.“ Dieses Expertenteam entwickelt dann gemeinschaftlich eine Art Plug-in-System, das alle Stränge zusammenbringt, maximale Flexibilität ermöglicht und auf Veränderungen reagieren kann. Johannes Kreißig verweist auf zehn Handlungsfelder, die die DGNB mit Partnern zusammengestellt hat: fünf für einen klimaneutralen Betrieb und weitere fünf für die Konstruktion (s. Abb. 2 und 3). Entscheidend für eine zielgerichtete Planung ist die richtige Balance dieser. „Jedes Quartier hat andere Randbedingungen und erfordert eine individuelle Zusammenstellung geeigneter Maßnahmen für die Zielerreichung. Es ist klar, dass wir erneuerbare Energien brauchen. Aber es gilt auszuloten, welche Form für eine bestimmte Situation am meisten Sinn macht“. In dem Modellprojekt für Klimaneutralität „Neue Weststadt“ in Esslingen beispielsweise deckt die Photovoltaik auf den Gebäuden den Bedarf nicht ab, dafür gibt es aber ein intelligentes Versorgungssystem. „Wir dürfen nicht vergessen, dass auch erneuerbare Energien ein knappes Gut sind, das wir gezielt einsetzen sollten.“
Auch bei der Errichtung von Gebäuden machen die fünf Handlungsfelder deutlich, dass Planende einen größeren Spielraum zur CO2-Reduktion haben, als oft angenommen. Gerade auf städtebaulicher Ebene (Handlungsfeld 1) werden durch die Orientierung und Kompaktheit der Gebäude, Mobilitätsinfrastruktur oder auch die Energieversorgung wesentliche Entscheidungen getroffen, die große Auswirkungen auf die Gebäude haben. Wenn Gebäude nicht optimal zur Sonne orientiert sind und/oder sich gegenseitig verschatten, ist es unter Umständen später (wirtschaftlich) nicht möglich Gebäude klimaneutral zu betreiben.
Klimaschutz lässt sich nur mit der Erfassung von Daten erreichen, einem kontinuierlichen Monitoring und der Opti-on, jederzeit nachjustieren zu können. Die Grundlage ist also, dass die Verbrauchsdaten der einzelnen Gebäude zur Verfügung stehen. Im Rahmenwerk der DGNB ist eine Schritt-für-Schritt-Anleitung enthalten, die aufzeigt, wie Gebäude auf dem wirtschaftlichsten Weg in die Klimaneutralität geführt werden. Was die DGNB vorgibt, ist heute noch freiwilliges Mehrtun. Aber der transparente Umgang mit Energieverbräuchen und CO2-Emissionen wird immer mehr zum Standard. „Vieles wird ja auch gesetzlich kommen“, sagt Kreißig. Er verweist auf die bereits verpflichtende kommunale Wärmeplanung in Baden-Württemberg, mit der gute Erfahrungen gemacht werden und erklärt: „Es geht ja vor allem darum, Bedarfe und Versorgung aufeinander abzustimmen, um eine optimale Auslastung des Wärmenetzes zu erreichen. Dazu gehört auch die Planung in die Zukunft. Stehen Kernsanierungen an, ändert sich der Bedarf. Das sollte auf der Zeitschiene eingeplant sein.“
Klimaschutz ist das Gebot der Stunde und sollte Grundvoraussetzung für die Planung und den Betrieb von Gebäuden sein. Um ein Quartier lebenswert, bezahlbar und im Einklang mit der Umwelt zu gestalten, bedarf es übergeordnet den Ansatz der ganzheitlichen Nachhaltigkeit. Sie schließt Klimaschutz mit ein. Alle relevanten Aspekte vereint die DGNB in ihrem Zertifizierungssystem für Quartiere [4]. Der Kriterienkatalog schafft in 30 Kriterien eine Balance zwischen den drei Säulen der Nachhaltigkeit, also Ökologie, Soziokultur und Ökonomie. Weiterhin stellt es Anforderungen an die Planungsprozesse und die Technik. Einen Überblick über alle Kriterien liefert Abbildung 4 auf horizontaler Ebene. Die vertikale Ebene verdeutlicht, dass sich Klimaschutz, aber auch Themen wie das Wohlergehen der Bewohner, Biodiversität, soziale Mischung und weitere in den einzelnen Kriterien wiederfinden.
Nachhaltige Quartiere werden über den gesamten Lebenszyklus geplant und betrachtet. Zukünftige Veränderungen werden also mitberücksichtigt, sorgen für langfristigen Werterhalt und Risikominimierung. Das System hat die Gesamtperformance des Quartiers zum Ziel. Bewertet wird also beispielsweise, ob Klimaneutralität im Betrieb erreicht wird und nicht die einzelne Maßnahme. Damit bleibt der Weg offen für freie Gestaltung und Innovationen.
„Um Anreize dafür zu setzen, dass der Betrieb des Quartiers klimaneutral ist, vergeben wir dafür Bonuspunkte. Oft ist es viel effizienter ein Quartier mit Wärme aus einer regenerativen Quelle zu versorgen, als jedes Gebäude einzeln“, sagt Stephan Anders, der bei der DGNB die Abteilung Zertifizierung leitet. Diese Philosophie der ganzheitlichen Nachhaltigkeit führte eine Handvoll Architekten und Bauschaffende zusammen, die schließlich 2007 zur Gründung der DGNB führte. Sie entschieden sich damals, all die Kriterien für nachhaltiges Bauen in einem Zertifizierungssystem zu vereinen und anwendbar zu machen. Angefangen mit dem System für Neubauten, gibt es heute für alle Anwendungen und Bauvorhaben einen Kriterienkatalog. Bereits 2011 wurde das DGNB-System für Quartiere entwickelt.
So wie sich Gesellschaft, Markt und Regulationen verändern, werden auch die Zertifizierungssysteme der DGNB stetig weiterentwickelt, um weitere Ambitionen zu setzen. Das System für Quartiere liegt aktuell in der Version 2020 vor. Überlegungen zur Überarbeitung laufen kontinuierlich weiter. „In der CO2-Bilanzierung sind die noch offenen Fragestellungen auf Quartiersebene, wie man mit Emissionen und Senken außerhalb der Gebäude umgeht“, sagt Anders. Er meint damit Verkehr, Infrastruktur, vielleicht sogar Ernährung und CO2-Senken durch Pflanzen.“ Bilanziert werden diese Bereiche im Zertifizierungssystem noch nicht, aber als Anforderung niedergeschrieben sind sie bereits; in Kriterien wie Mobilitätsinfrastruktur, Biodiversität und Mikroklima. „Mit einer angemessenen Dichte, vielen Grünflächen, nachhaltigen Mobilitätsangeboten und sozialer Durchmischung ist man in jedem Fall auf einem guten Weg“, schließt Anders.
Quellen:
[1] NewClimate Institute (2022): Corporate Climate Responsibility Monitor 2022 [2] DGNB (2020): Rahmenwerk für klimaneutrale Gebäude und Standorte [3] DGNB (2021, 12. August): DGNB plädiert für differenzierten Umgang mit Holzbau [Pressemeldung]. https://www.dgnb.de/de/aktuell/pressemitteilungen/2021/positionspapier-holzbau [4] DGNB (2020): DGNB System Kriterienkatalog Quartiere
Weiterführende Informationen: https://www.dgnb.de/de/index.php
Dienstag, 23.08.2022