Tollhaus der Zukunft?

Intelligente Gebäude setzen Integrale Planung voraus

Intelligente Gebäude rücken zunehmend in den öffentlichen Diskurs. Im Januar 2015 sinnierte der Spiegel in der Rubrik „Technik“ über die Zukunft digitaler Technologien im Kontext von Smart Home. Die sogenannte Revolution des Wohnens durch das „Internet der Dinge“ entpuppt sich in dem Artikel „Im Tollhaus der Zukunft“ potentiell aber eher als ein obskures Konglomerat aus digitalen „Hausgeistern“, die entweder kein Mensch braucht oder seine Bewohner in Umstände verwickeln, die man bestenfalls als komisch bezeichnen kann.

So gibt der Kühlschrank auf „Anweisung der Toilette der angeblich schwangeren Tochter kein Bier mehr heraus“. Oder der Akku des Elektroautos ist leer, „weil der smarte Zähler die Ladung mit Gewinn an der Elektrobörse verkauft hat“. Wohl nicht zuletzt vor dem Hintergrund solcher Szenarien attestiert der ­Autor den Visionären der Branche einen speziellen „Hang zum Kindlichen“. Darüber hinaus bleibt die zentrale Frage der Bedienlogik von der Elektronikbranche unbeantwortet: „Sie wirft einfach Geräte auf den Markt“. Aber damit nicht genug: Wie kann man glaubhaft verhindern, dass die digitalen „Hausgeister unter Fremdherrschaft“ geraten und die Bewohner ausspionieren? Nicht nur der Spiegel wägt in diesem Artikel eher ambivalent Chancen und Risiken digitaler Technologien am Bau ab.

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-131242928.html

Auch die Zeit impliziert fast zeitgleich ein ähnliches Bild: „Als mein Toaster dann aber eines Morgens zu singen begann – es war, glaube ich, Somewhere Over the Rainbow – und selbst der Fenstergriff ein rhythmisches Zirpen von sich gab, da konnte ich es nicht länger leugnen: Die Zukunft des Wohnens hatte begonnen.“, so die ersten paar Zeilen im Artikel „Mein Zuhause ist fürsorglich – und streng“. Hier sind es auf der einen Seite technikverliebte Ingenieure, die als Protagonisten dieser Entwicklung seit Jahrzehnten vom intelligenten Gebäude träumen, aber nie über Prototypen hinausgekommen sind: „Zu teuer, zu kompliziert waren die Erfindungen“.

http://www.zeit.de/2015/01/smart-home-wohnen-intelligentes-haus

Als Antagonisten gelten auf der anderen Seite technik­feindliche Architekten. Kein geringerer als der Niederländer Rem Koolhaas wird als einer der einflussreichsten Baumeister der Gegenwart beispielhaft herangezogen: Bald, sagt Koolhaas, brauche jedes Haus einen Faraday’schen Käfig, einen „Sicherheitsraum, in dem man sich zurückziehen kann vor allen digi­talen Sensoren“. Der Autor des Artikels gibt sich allerdings eher erstaunt über diese skeptische Grundhaltung und erinnert Koolhaas und seine Zunft an die Technikbegeisterung der Moderne, die bisher noch jeder Innovation neue Funktionen und Formen abgewinnen konnte: Nichts anderes verlangt das intelligente Gebäude als eine „Art Hyperfunktionär“.

Und in der Tat: Ein Blick in andere Branchen lässt die derzeit am Bau gehandelte Spannweite zwischen Technikverliebtheit und Technikfeindlichkeit gegenüber digitalen Technologien wahlweise als antiquiert oder naiv und unreflektiert erscheinen. In der Automobilbranche werden digitale Technologien schon seit geraumer Zeit sinnstiftend eingebracht und erzielen neue Standards in Effizienz und Komfort, die kaum noch jemand missen möchte. Und auch in der Baubranche muss das vielfach skizzierte, obskure Konglomerat aus digitalen „Hausgeistern“ nicht das letzte Maß der Dinge sein. Im Gegenteil: Das Rad ist nicht neu zu erfinden, um intelligente Technologien ähnlich sinnstiftend wie in der Automobilbranche einzusetzen und neue Standards in Effizienz und Komfort zu erzielen.

Zwischen Standardisierung und Individualisierung

Es ist kaum zu glauben: Während der Gesetzgeber seit Jahrzehnten die energetischen Rahmenbedingungen für den Bau und Betrieb von Gebäuden klar absteckt sowie die Anforderungen an die Effizienz von Bau- und Anlagentechnik kontinuierlich erhöht, spielen intelligente Technologien in Form von digitaler Elektronik erst seit Mai 2014 eine erste zaghafte Rolle in den integralen Planungsprozessen am Bau.

Dabei liegen viele Vorteile auf der Hand. Selbst die effizienteste Bau- und Anlagentechnik übt nahezu keinen Einfluss darauf aus, wie sich ein Nutzer verhält, wenn er zum Beispiel einen Raum längere Zeit verlässt. Macht er das Licht aus? Bleibt das Licht einfach an?

Dieses kleine Beispiel zeigt eine eklatante Lücke in den konventionellen, statischen Strategien zur Gestaltung energetisch hocheffizienter Gebäude: Sie berücksichtigen nicht den tatsächlichen Energiebedarf im Raum. Oder anders formuliert: Ein Raum wird möglicherweise wärmetechnisch, kältetechnisch, raumlufttechnisch und lichttechnisch konditioniert, egal ob das aktuell erforderlich ist oder nicht. In der aktuellen DIN V 18599 „Energetische Bewertung von Gebäuden“ werden deshalb solche Überlegungen erstmals in Teil 11 „Gebäudeautomation“ berücksichtigt und sind mit der neuen Energieeinsparverordnung (EnEV 2014) in Kraft getreten.

Strukturell entsprechen die hier aufgeführten Automatisierungsgrade mit ihren Gewerke übergreifenden Funktionsclustern den gleichnamigen Funktionsklassen A bis D der EN 15232 „Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden – Einfluss von Ge­bäudeautomation und Gebäudemanagement“, wobei Effi­zienzklasse A besonders hoch effiziente Automationssysteme beinhaltet und Effizienzklasse D quasi als „Sanierungsfall“ gilt. Allerdings finden die in der EN 15232 aufgeführten Gebäudeautomationsfaktoren zur Reduktion thermischer und elekt­rischer Endenergie gängiger Gebäudetypen weder in der energetischen Gesamtbilanzierung nach DIN V 18599 eine ausreichende Berücksichtigung, noch in den führenden Gebäudezertifizierungssystemen wie „BREEAM“, „LEED“ oder „DGNB“.

Effizienz jenseits gesetzlicher Regulierung

Das ist schlichtweg nicht nachvollziehbar, wirft man einen unvoreingenommenen Blick auf die Potentiale, die sich hier abzeichnen und durch diverse, ingenieurwissenschaftlich begleitete Feldstudien immer weiter untermauert werden: Betreibt man ein Bürogebäude beispielsweise mit einem Automationssystem der Klasse A, kann sich der Bedarf an thermischer Endenergie um bis zu 30 Prozent und an elektrischer Endenergie um bis zu 13 Prozent reduzieren! Um diese Potentiale jenseits gesetzlicher Regulierungen marktliberal zu erschließen, führte die „eu.bac“ (European Building Automation and Controls Association) 2013 erstmals eine neue Audit-Methodik für Gebäudeautomationssysteme ein und startete eine Markteinführung in ganz Europa.

Anders jedoch als EN 15232 basiert das „eu.bac“-System auf einem gewichteten Verfahren: Nicht das ganze Gebäude wird energetisch klassifiziert, sondern seine einzelnen Räume und Zonen. Das ist viel praxisnäher, denn in der Regel wird beispielsweise ein Flur anders konditioniert und automatisiert als ein Büro. Um das Bewertungssystem auf einen sicheren Boden zu stellen, wurden die zugrundeliegenden Verfahren und Gewichtungsfaktoren von der TU Dresden verifiziert und bestätigt. Die Effizienzklassen der Automatisierung reichen von F bis AA und werden über eine Skala von 0 bis 100 Punkten relativ bewertet.

Lässt sich Komfort normieren

Einige der Automatismen ergeben aber nicht nur im Kontext von Effizienz einen Sinn, sondern auch im Kontext von Komfort. So ist es gleichermaßen effizient und komfortabel, das Licht bei Verlassen eines Raumes automatisch auszuschalten. In dieser Hinsicht versucht beispielsweise die VDI Richtlinie 3812 „Assistenzfunktionen zum Wohnen“ über eine Planungsmatrix gewisse Spielräume intelligenter Funktionen zu standardisieren. Das Licht in einem Raum wird beispielsweise nicht mehr nur mit Hilfe eines einfachen Schalters ein- und ausgeschaltet, sondern es besteht die Möglichkeit, unterschiedliche Lichtszenen abzurufen und in Kombination mit Verschattungssystemen zu automatisieren.

Im Vergleich zu der enormen Vielzahl standardisierter Assistenzfunktionen, die sich mittlerweile jedem Käufer eines Mittelklassewagens bietet, muss dieser Ansatz allerdings eher als ein erster, einfacher Versuch gewertet werden, sinnvolle Funktionen intelligenter Gebäude auch jenseits von Effizienz zu etablieren. Es erscheint sogar mehr als fraglich, ob dieses Unternehmen in Form normativer Vorgaben und Empfehlungen überhaupt Sinn machen kann. Dagegen sprechen zwei gewichtige Argumente: Im Gegensatz zur Automobilbranche werden in der Baubranche keine Serienprodukte entwickelt, von Robotern gebaut und in hohen Stückzahlen verkauft.

Nahezu jedes Bauprojekt generiert eine Art Prototyp, der zu mindestens in Europa in einem mehr oder weniger komplexen städtebaulichen Zusammenhang errichtet wird. Und es ist auch nicht abzusehen, dass sich das in absehbarer Zukunft ändert. Nicht auf der grünen Wiese werden die Bauaufgaben der Zukunft gelöst, sondern im städtebaulichen Kontext und im Gebäudebestand. Hier schließt sich das zweite Argument an: Die postmodernen Gesellschaften erzeugen einen hohen Grad an Individualisierung, der sich letztlich auch in einem Funktions- und Formenpluralismus der Architektur widerspiegeln möchte. Wohl niemand wünscht sich eine standardisierte Baukultur der 1970er-Jahre zurück, die derzeit in vielen europäischen Städten flächendeckend abgerissen und überplant wird.

Der Mensch im Mittelpunkt

Während also ein effizienter Gebäudebetrieb auf Basis intelligenter Technologien mit standardisierten Funktionsclustern korrespondiert, ergeben sich in Komfortfragen überaus komplexe Gestaltungsspielräume. Diese müssen auf Basis einer detaillierten Projektanalyse in ein technisches Gesamtkonzept eingebettet werden und bilden somit den integralen Bestandteil des Designs eines intelligenten Gebäudes. Intelligente Technologien erzeugen, ähnlich wie das menschliche Nervensystem, für sich selbst gesehen zunächst keinen wahrnehmbaren Nutzen. Erst im übergeordneten Zusammenspiel der unterschiedlichen Gewerke werden das Ziel und der Nutzen eines jeden einzelnen technischen Systems optimiert: Ziel und Inhalt aller Überlegungen muss dabei der Mensch sein – die Planung dafür aber unbedingt den ganzheitlichen, den integralen Ansatz haben.

In nahezu allen anderen Branchen steht gerade die Frage der Bedienphilosophie moderner Technologien im Zentrum einer integralen Gestaltungsarbeit von Designern und Ingenieuren. In der Baubranche hingegen wird ausgerechnet die Frage der Bedienlogik nicht selten gestaltungs- und planungsfremden Technologen oder gar Nerds überlassen – mit den entsprechenden Ergebnissen. Gerade hier braucht es also zunächst nicht ein mehr oder weniger verkürztes Verständnis intelligenter Tech­nologien in Form eines handwerklichen Know-hows, sondern vielmehr ein großes Maß an gestalterischer und planender Intelligenz, die dem Know-how ein Know-what vorrausschickt.

In einem Interview Anfang 2015 charakterisiert der Technologiechef von Siemens, Siegfried Russwurm, den technischen Wandel der letzten 150 Jahre in einer aufsteigenden Reihenfolge: „Elektrifizierung. Automatisierung. Digitalisierung.“ Es ist schwer vorstellbar, dass diese Entwicklungen die Baubranche im 21. Jahrhundert nicht nachhaltig beeinflussen und verändern werden. Eines scheint jedenfalls klar: Der Elektriker alleine wird die Sache nicht richten können, genauso wenig wie der Schlosser die Stahl- und Glasarchitektur im 20. Jahrhundert.

Donnerstag, 29.09.2016