Urbanes Regenwassermanagement – ein echter Paradigmenwechsel

Interdisziplinäres Denken und Handeln wird in Forschung, Lehre und Ausbildung des Baubereichs seit jeher großgeschrieben, zumindest in der Theorie. In der Praxis halten uns häufig Termin- und Kostendruck davon ab, einmal durch die Brille des benachbarten Gewerkes zu schauen, die vielbeschworenen Synergien zu nutzen oder gar gemeinsame Strategien zu entwickeln. Das berühmte „Ziehen an einem Strang“ ist eben nur dann sinnvoll, wenn alle Beteiligten ihre Kräfte in dieselbe Richtung wirken lassen. Was bestenfalls geschehen kann, wenn sich Spezialisten aus unterschiedlichen Bereichen zusammenfinden, um gemeinsam nach Lösungen für allgegenwärtige Probleme zu suchen, soll das folgende Beispiel zeigen.

Hier haben sich nämlich Profis aus den Bereichen Hoch- und Tiefbau zusammengetan und ein Konzept entwickelt, das nicht nur bei der Bewältigung gleich zweier großer Herausforderungen hilft, sondern außerdem so einleuchtend erscheint, dass man sich fragen möchte, warum es nicht schon viel früher fester Bestandteil des einschlägigen Planungsrepertoires geworden ist. Die Antwort lautet, es hat einfach zunächst den interdisziplinären Austausch gebraucht.

Problem 1: Extreme Niederschläge

Der Klimawandel ruft weltweit recht unterschiedliche Folgen hervor. Während ganze Inselgruppen drohen, im Meer zu versinken, verkarsten andernorts ehemals fruchtbare Böden und zwingen die Einheimischen zur Migration. Für Deutschland bedeutet die globale Erwärmung eine weitere Verschärfung der meteorologischen Phänomene, die wir seit Jahren beobachten können. Die Sommer werden trockener und heißer und die Winter milder und feuchter. Dabei steigt die Menge der jährlich niedergehenden Niederschläge in Summe gar nicht wesentlich an, die einzelnen Niederschlagsereignisse jedoch werden extremer und in den Folgen immer schwerer beherrschbar. Das Max-Planck-Institut rechnet beispielsweise mit einer Zunahme der Niederschläge im Winter um bis zu 30 Prozent. Und auch der Deutsche Wetterdienst (DWD) stellt in einer seiner Abhandlungen mit dem Titel „Hydro-klimatologische Einordnung der Stark- und Dauerniederschläge in Teilen Deutschlands im Zusammenhang mit dem Tiefdruckgebiet Axel“ Folgendes fest: „Klimaanalysen der letzten 70 Jahre zeigen, dass die Häufigkeit extremer Starkniederschläge mit einer Dauerstufe von 24 h in Deutschland tendenziell zugenommen hat. Auf Basis von Klimaprojektionen kann abgeschätzt werden, dass sich diese Tendenz fortsetzt. […] Klimaprojektionen zeigen, dass solche Wetterlagen in Zukunft vermutlich häufiger vorkommen werden. Hinzu kommt eine zunehmend erhöhte Verweildauer der Wetterlagen, sodass Niederschlagsgebiete langsamer ziehen und Starkniederschläge an einem Ort länger andauern.“

Mit anderen Worten, ein wenig mehr Niederschläge über das Jahr verteilt würde niemanden vor ernsthafte Probleme stellen, aber die bereits jetzt zu beobachtenden lokal oder gar punktuell auftretenden extremen Niederschläge entwickeln zerstörerische Kräfte, insbesondere in den Städten. Hier hat man früher hauptsächlich auf die Ableitung des Wassers gesetzt, was aus zwei Gründen falsch war: Zum einen sinkt durch die Ableitung der lokale Grundwasserspiegel und zum anderen sind zum Teil katastrophale Überflutungen vorprogrammiert, sobald die Kapazitätsgrenze der Kanalisation überschritten wird.

Problem 2: Urbane Hitzeinseln

Und die Städte haben mit einem weiteren Problem zu kämpfen, dem sogenannten „Urban Heat Island Effect“. Mit den „urbanen Hitzeinseln“ ist das Phänomen gemeint, dass sich die Städte zunehmend sehr stark aufheizen. Während sich in ländlichen Gebieten durch nächtliche Abkühlung niedrigere Durchschnittstemperaturen einstellen, speichern die Städte mit ihren Oberflächen und Strukturen aus Stein, Beton, Asphalt die Wärme, was zu Temperaturdifferenzen zum Umland von über 10 K führen kann. Die Erwärmung der Städte nimmt somit Dimensionen an, die weit über denen der globalen Erwärmung liegen. Die weiter voranschreitende Versiegelung (bundesweit über 60 ha pro Tag), das Fehlen von Grünanlagen und der Verkehr tragen unter anderem zur Verschärfung des Problems bei. Die Stadt Wien, die auf diesem Gebiet forscht, stellte fest, dass die durchschnittliche Anzahl von sogenannten Hitzetagen (Temperaturen > 30 °C) um knapp 60 Prozent zugenommen hat und die Zahl der Sommertage (Temperaturen > 25 °C) um ungefähr ein Drittel gestiegen ist. Solche Temperaturanstiege sind nicht mehr nur lästig, sie bergen große Gefahren. Neben den negativen Auswirkungen, beispielsweise auf Leistungsfähigkeit und Unfallhäufigkeiten, steigt der Energieverbrauch für Gebäudekühlung und Raumklimatisierung, mit den bekannten problematischen Folgen für die Umwelt.

Ganz hart trifft es die Schwachen: Eine gemeinsame Untersuchung des Robert Koch-Instituts, des DWD und der Charité, Berlin, ergab für die extremen Jahre dieses Jahrtausends hierzulande hitzebedingte Übersterblichkeiten von 300 bis 7.600 Fällen pro Jahr. Und auch wenn es auf den ersten Blick paradox erscheinen mag, das Hitzeproblem verstärkt das Niederschlagsproblem, denn warme Luft kann mehr Wasser aufnehmen als kalte – und warme Luft steigt schneller auf. Starkregen fällt häufig aus sogenannter konvektiver Bewölkung, die etwa durch eben diese schnell auf- oder absteigenden Luftmassen entsteht. Erreicht die Luft kühlere Schichten, kondensiert das Wasser und fällt als gegebenenfalls starker Regen auf die Stadt. Zwei miteinander verzahnte Probleme, die dringend nach einer Lösung verlangen. Die Stadt New York hat inzwischen damit begonnen, dunkle Dachflächen weiß zu streichen, um den solaren Eintrag zu reflektieren, statt ihn zu absorbieren. Aber ob das reichen wird?

Eine Lösung aus zwei Welten

Tiefbauingenieure, die sich der Entwässerung verschrieben haben, versuchen heute, mit dem anfallenden Regenwasser möglichst naturnah umzugehen, auch in der Stadt. Das heißt, die Ableitung soll stets nur als letztes Mittel in Betracht kommen, stattdessen gibt man der Versickerung und der Verdunstung den Vorzug. Um Wasser verdunsten zu können, braucht es große, möglichst begrünte Flächen und hier verfügen die Städte über ein erhebliches Potential. Begrünte innerstädtische Flächen steigern nicht nur die Lebensqualität von Quartieren, sie können einen aktiven Beitrag bei der Lösung der beiden beschriebenen Probleme leisten.

Einerseits fungieren sie bei Starkregenereignissen als erster Zwischenspeicher, welcher alle nachfolgenden Bauteile entlastet. Und im Sommer können sie durch Verdunstung eine natürliche Kühlleistung bereitstellen, die das Mikroklima des Viertels spürbar entlastet. Ein großer Baum kann pro Tag bis zu 500 l Wasser verdunsten, nur muss dieses Wasser, gerade im Sommer, von irgendwoher kommen. Die Antwort liegt in der Verbindung von Dach- und Flächenbegrünung mit den Komponenten, welche der Reinigung, der Speicherung und der Versickerung dienen.

Anfallende Niederschläge treffen zunächst auf die Begrünung. Wird die hier benötigte Menge überschritten, wird der Überschuss auf dem Dach in sogenannten Retentionsboxen gelagert. Sind auch diese gefüllt, durchläuft das Wasser, zusammen mit dem auf allen nicht begrünten Flächen anfallenden Wasser, Sedimentationsanlagen zur Reinigung und erreicht dann großvolumige Zisternen, in welchen es gespeichert wird. Benötigt die Bepflanzung Gießwasser, ist dieses in ausreichender Menge vorhanden und kann durch Pumpen abgerufen werden. Sind die Speichervolumen im Sommer gut gefüllt, kann die Wassermenge über die Begrünung verdunstet werden und so den gewünschten Kühlungseffekt herbeiführen. Sind die Speicher jedoch voll, während ein Starkregenereignis zu erwarten ist, kann eine ausreichende Versickerung über entsprechende Versickerungsrigolen rechtzeitig eingeleitet werden. Eine Steuerung, welche permanent meteorologische Daten, wie zum Beispiel Niederschlagsmengen, Luftfeuchte, Windgeschwindigkeiten und -richtung, Temperatur und Sonnenscheindauer, detektiert und außerdem Wetterprognosen abruft und in Modellberechnungen einpflegt, regelt und überwacht alle notwendigen Prozesse.

Dort wo dieser Ansatz konsequent verfolgt wird, etwa beim Bau des Goethequartiers in Offenbach (Architekten Landes & Partner, Frankfurt/M.), kann mit Blick auf das Niederschlagswasser die vollständige Entlastung der Kanalisation erreicht werden: In dem Viertel am Main werden 78 Prozent über Grünflächen verdunstet und 22 Prozent versickert – abgeleitet wird nichts mehr. Das Beispiel zeigt nicht nur, welche neuen Wege planerische Kreativität öffnen kann, sondern auch, wie ein Problem zur Lösung eines anderen beitragen kann. Man wünscht sich mehr davon!

Weiterführende Informationen: https://www.fraenkische.com/de-DE/group/drainage-systems

Dienstag, 31.08.2021