Die zylinderförmige Weinrebe ist klein und dichtbeerig. Der Rispenstiel ist kurz und vergleichsweise holzig.
Esslinger Hochgewächs
Reallabor der Energiewende in der Region Mittlerer Neckar
Mittwoch, 16.06.2021
Eng gerafft stehen die rundlichen Beeren von gelb-grünlicher Farbe. Die Schale der Beere ist dick, das Bouquet ist fein und sehr nuancenreich. Der Riesling als eine weiße Rebsorte wird zu den hochwertigsten Gewächsen gezählt, der Wein bevorzugt als rassig, lebendig, frisch-elegant, stahlig und mineralisch beschrieben. Viele Spitzenlagen sowohl in Deutschland als auch in anderen Weinbauländern sind mit Riesling bestockt.
Je mehr Sonne desto besser
Was hinsichtlich des Weinanbaues ein weit verbreiteter Irrglaube ist – schließlich wächst der feinste Wein eher in kühlen Zonen – beim Projekt „Neue Weststadt – Klimaquartier“ in Esslingen am Neckar spielt die maximale Nutzung der Sonnenenergie eine wesentliche Rolle. In Sichtweite des urwüchsigen Weinbergs, wird vor Ort zukünftig mit Power-to-Gas-to-Power P2G2P als neuer Schlüsseltechnologie überschüssiger Ökostrom in „grünen Wasserstoff“ umgewandelt.
Energieautarke Wohngebäude als Schlüssel zum Klimaschutz
"Die Abkehr von individuellen Wärmeerzeugern zu einer gemeinsamen Quartiersversorgung bietet die Chance einer Skalierung der Wirtschaftlichkeit. Es lassen sich die Wirkungsgrade für die Umwandlung der Einsatzenergie in die benötigten Medien erlangen und erneuerbare Energiequellen über ein gemeinsames Wärmenetz effizienter erschließen", so die Arbeitsgemeinschaft für sparsamen und umweltfreundlichen Energieverbrauch e.V., abgekürzt ASUE.
Die bauliche Entwicklung der „Neuen Weststadt“ ist mit ihrer Größe von über 12 Hektar das bedeutendste Stadtentwicklungsprojekt der Stadt Esslingen. Auf dem zentral gelegenen Gelände entsteht ein urbanes Quartier mit Wohnungen in Kombination mit Arbeitsplätzen, Nahversorgung, Grünflächen und einem Quartiersplatz.
Diese vielfältige Nutzungsmischung sichert nachhaltig die Attraktivität und Funktionsfähigkeit des urbanen Geflechts aus modernen Arbeitsplätzen, attraktiven Wohnbereichen und vielfältigen Freizeitangeboten.
Kernstück des technologisch innovativen Stadtquartiers ist das energetische Konzept. In der Quartiersmitte befindet sich eine Versorgungsinfrastruktur mit einer Energiezentrale – mit dem zukunftsfähigen Ansatz, bei dem auf lokaler Ebene eine Kopplung der Sektoren Strom, Wärme, Kälte und Mobilität im Mittelpunkt steht.
Überschüssiger erneuerbarer Strom aus den lokalen Photovoltaik-Anlagen und aus überregionaler Erzeugung wird mittels Elektrolyse umgewandelt. Es entsteht grüner Wasserstoff. Dieser wird gespeichert und kann erstmalig bedarfsangepasst bereitgestellt werden. Die Wärme, die beim Vorgang der Elektrolyse entsteht, wird zudem zur Versorgung des Quartiers beitragen.
Sektorenkopplung als Modell
Das Quartier umfasst im Endausbau rd. 550 Wohneinheiten, Büro- und Gewerbeflächen sowie einen Neubau der örtlichen Hochschule. Das Ziel ist, einen nahezu klimaneutralen Stadtteil – im Projekt definiert mit unter einer Tonne CO2-Emissionen pro Bewohner und Jahr für Wohnen und Mobilität – zu errichten. Dies wird u. a. durch die Reduzierung des Energiebedarfs, einen hohen Grad an Solarisierung, die Nutzung der Abwärme aus der Wasserstoff-Erzeugung sowie den Einsatz von Biomethan in BHKWs erreicht.
Zentrales Element der Energieversorgung des Quartiers ist ein Wasserstoff-Elektrolyseur mit einer Leistung von 1.000 kWel. In ihm wird Strom aus erneuerbaren Energiequellen in „Grünen Wasserstoff“ umgewandelt.
Der eingesetzte Strom stammt aus lokalen PV-Anlagen auf den Gebäudedächern sowie überwiegend aus Erzeugungsanlagen, die von außerhalb überschüssigen, erneuerbaren Strom über das öffentliche Stromnetz liefern. Die etwa 25 – 30 % Abwärme des Elektrolyseurs (ca. 60 °C) wird über ein Nahwärmenetz im Quartier genutzt, um rd. die Hälfte des Wärmebedarfs der Wohngebäude und der Hochschule zu decken. Durch die Wärmeintegration wird ein Jahresnutzungsgrad der Elektrolyse von ca. 85 – 90 % erreicht.
Klimaneutrales Stadtquartier als Ziel
Die „Neue Weststadt“ wurde als eines von sechs Leuchtturmprojekten aus mehr als 60 Mitbewerbern in Deutschland ausgewählt. Auf Quartiersebene werden Wege gesucht, wie bis zum Jahr 2050 das Ziel eines klimaneutralen Gebäudebestands erreicht werden kann.
Solares Bauen / Energieeffiziente Stadt
Die Förderinitiative ist Teil des 6. Energieforschungsprogramms der Bundesregierung im Bereich innovativer Energietechnologien – die Voraussetzungen dafür schafft, dass der Umbau der Energieversorgung in Deutschland umweltschonend, sicher und kostengünstig gestaltet werden kann.
Der Titel steht plakativ für den gesamten Bereich des energieoptimierten Bauens, Sanierens und Betreibens von Gebäuden und Energieinfrastrukturen in Quartieren und umfasst alle Aspekte der Erhöhung der Energieeffizienz, der Integration erneuerbarer Energien und der Energieoptimierung u. a. durch intelligente Sektorkopplung.
Die ressortübergreifende Initiative ist ein Beitrag der Energieforschung zur Umsetzung der Bekanntmachung "Leitinitiative Zukunftsstadt" des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Zugleich wird hiermit die neue "Hightech-Strategie" der Bundesregierung umgesetzt. Ihr Ziel ist es, die Kräfte von Wissenschaft, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik noch stärker zu bündeln und die daraus erwachsenden Synergien für höhere Wettbewerbsfähigkeit und nachhaltigen Wohlstand zu nutzen. Gleichzeitig unterstützt die Bekanntmachung die Umsetzung der Energieeffizienzstrategie Gebäude (ESG) im Rahmen des Nationalen Aktionsplans Energieeffizienz der Bundesregierung (NAPE). Die in dieser Bekanntmachung aufgeführten Förderthemen basieren auf den "Expertenempfehlungen des Forschungsnetzwerks Energie in Gebäuden und Quartieren" und der "Forschungs- und Innovationsagenda (FINA)" der "Nationalen Plattform Zukunftsstadt (NPZ)"
Energieeffizienz und Wirtschaftlichkeit spielen auch beim Bau der Gebäudeblöcke eine große Rolle, was sich beispielsweise in der hohen wärmeschutztechnischen Qualität der Gebäudehüllen zeigt. Bereits auf Blockebene sollen so weit wie möglich erneuerbare Energien zur Eigenversorgung genutzt werden.
Kopplung der Sektoren Strom, Wärme, Kälte und Mobilität
Innovative Ideen gibt es auch beim Thema Mobilität: Hier ist geplant, Schnittstellen zwischen der stationären Energieinfrastruktur und der Mobilität im Quartier durch das Angebot von Ladestationen zu nutzen und die Lade- und Buchungstechnik der Fahrzeuge für einen netzdienlichen Betrieb zu verbinden.
Um den „grünen Wasserstoff“ auch Nutzungspfaden außerhalb des Quartiers zuführen zu können, werden in der „Neuen Weststadt“ eine Einspeisestation in das Erdgasnetz, eine H2-Abfüllstation sowie eine H2-Tankstelle auf dem bisherigen Gelände der Stadtwerke Esslingen errichtet. In der zweiten Ausbaustufe können einzelne Fahrzeuge an einer H2-Tankstelle betankt werden. Mögliche Abnehmer sind Brennstoffzellen-Fahrzeuge von Privatleuten, von Flottenbetreibern wie z.B. Mobility-Sharing-Anbieter, Kommunale Fahrzeuge oder von Unternehmen mit eigenem Fahrzeugpool.
Kooperation mit dem Öffentlichen Personennahverkehr
Für die dezentrale Vermarktung von Energie werden neue Lösungsansätze und Vermarktungsoptionen entwickelt. Es ist geplant, die Versorgungssysteme über ein intelligentes Stromnetz "Smart Grid" übergreifend digital miteinander zu verbinden. In verschiedenen Anwendungen sollen neue Stromspeichertechnologien erprobt und das Potenzial für eine gekoppelte Nutzung bewertet werden.
Auch eine Kooperation mit dem ÖPNV ist vorgesehen: Im Überfluss erzeugter lokaler Ökostrom soll in das Gleichstrom-Oberleitungsnetz eingespeist werden, das in Esslingen oberleitungsgebundene Elektrobusse nutzen. Zusätzlich sollen eine vorübergehende bidirektionale Verwendung der Antriebsbatterien in den Bussen zur Stromnetzstabilisierung untersucht und alte Batterien am Ende ihrer Lebensdauer einer SecondLife-Nachverwendung zugeführt werden.
Integrale Planung at its best
Gegenseitiges Lernen in einem experimentellen Umfeld – um die Kooperation zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit geht es hier. Im Reallabor kommen Akteure aus Forschung und Praxis zusammen, um auf Basis eines gemeinsamen Problemverständnisses wissenschaftlich und sozial robuste Lösungen zu erarbeiten und auszuprobieren.
Die Akzeptanz der verschiedenen Nutzungsgruppen ist ein wichtiger Baustein für Erfolg und Übertragbarkeit des Projektes – die Quartierstrukturen sind wegweisend für künftige Projekte. Um frühzeitig die Wünsche und die Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger zu kennen und zu integrieren, wird der Transformationsprozess mit einem sozialwissenschaftlichen Monitoring begleitet. Über geeignete Medien werden die Erwartungen und Motive der Bürgerinnen und Bürger erfasst und beim Bau des Quartiers berücksichtigt werden. Gelingt es, alle Ideen erfolgreich umzusetzen, wird ein nahezu klimaneutrales Stadtquartier entstehen, das lebenswert ist, alle städtischen Funktionen mit einbezieht und so ein leuchtendes Vorbild für künftige Entwicklungsvorhaben und Bürgerbeteiligungsprozesse in anderen Kommunen gibt.
Aktive Bürgerinnen und Bürger geben sich in ihrem Engagement nicht mehr mit dem zufrieden, was sie vorfinden. "Sie fordern bei den Gemeinden, dem Land oder dem Bund Unterstützung, Vernetzung und Beratung ein und sie äußern ihre Meinungen" zu betreffenden Themen. Gefragt ist die Einbindung, erwünscht sind Formate der Beteiligung wie Planungszellen mit Bewohnern, statt der bloßen Gegenüberstellung von festen Expertenmeinungen, die schließlich nicht zwingend über die richtigen Erkenntnisse verfügen. Wichtige Aspekte aus den Erfahrungswelten und dem Meinungsspektrum von Bürgerinnen und Bürgern finden damit Gehör.
Fokus Bürgerbeteiligung
"Informelle Beteiligungsverfahren und direkte Demokratie unterstützen und ergänzen die repräsentative Demokratie. Sie stehen somit keineswegs der repräsentativen Demokratie gegenüber. Vielmehr bergen die Methoden der informellen Beteiligung die Möglichkeit, neue Blickwinkel auf bestehende Probleme zu erlangen und bei neuen Vorhaben von Anfang an alle Betroffenen einzubinden. Die Methoden bedienen sich hierfür sozusagen der Schwarmintelligenz der Bürgerinnen und Bürger. Sie bereichern politische Entscheidungen, schaffen Transparenz und erhöhen die Akzeptanz politischer Prozesse und Entscheidungen. Damit informelle Bürgerbeteiligung praktiziert wird, brauchen die Bürgerinnen und Bürger aber ein verbindliches Instrument an die Hand, um notfalls selbst entscheiden zu können."
Um die Bewohner im Quartier aktiv einzubinden, sind diverse Maßnahmen geplant – es wurde beispielsweise eine App als Nutzerinterface entwickelt, um zeitnahe zielgerichtete Informationen zum Energieverhalten oder zu Tarifen zu erhalten.
Das urbane Konzept hilft, Erkenntnisse über eine zukunftsfähige, nahezu klimaneutrale Energieversorgung zu gewinnen und trägt auf diese Weise zur Energiewende bei. Zusätzlich macht das „Klimaquartier – Neue Weststadt“ ressourcenschonendes und energiebewusstes Wohnen und Arbeiten vor Ort erlebbar.
Durch Innovation Potentiale nutzen
Entscheidungs- und Handlungsfreiheit mit Selbstverwaltungsrecht haben Tradition in Esslingen, der ehemals „Freien Reichsstadt“. In beinahe direkter Nachbarschaft des Neuen Quartiers steht der historische Speyrer Pfleghof aus der Stauferzeit.
Der eindrucksvolle frühere Zehnthof wurde wohl um das Jahr 1213 errichtet und ist heute Firmensitz und Produktionsstandort der Sektmanufaktur Kessler – Deutschlands ältester Sektkellerei. Mit historischen Wurzeln in Frankreich. Bei der klassischen Flaschengärung, auch Méthode champenois oder, Méthode traditionnelle genannt, findet die zweite Gärung in der Sektflasche statt.
Ganz im Sinne des hier vorgestellten Best-Practice: Mit seinem gesammelten Wissen als Direktor und Teilhaber eines der berühmtesten Champagner-Häuser in Reims, gründete Georg Christian von Kessler am 1. Juli 1826 in Esslingen am Neckar sein weltweit bekanntes Unternehmen.
Quellenangaben:
Dr. Katja Walther, Stadt Esslingen am Neckar https://neue-weststadt.de/informationszentrum/
Univ. Prof. Dr. M. Norbert Fisch, Steinbeis Innovationszentrum Energie-, Gebäude- und Solartechnik (SIZ), Stuttgart https://www.steinbeis.de/de.html
Förderinitiative „Solares Bauen/Energieeffiziente Stadt“, BMBF Berlin https://www.bmbf.de/foerderungen/bekanntmachung-1168.html
Staatsministerium Baden-Württemberg, Stabsstelle der Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, Stuttgart https://beteiligungsportal.baden-wuerttemberg.de/de/informieren/was-ist-buergerbeteiligung/
Arbeitsgemeinschaft für sparsamen und umweltfreundlichen Energieverbrauch e.V., abgekürzt ASUE, Berlin https://asue.de/
Kessler Sekt GmbH & Co. KG, Esslingen am Neckar https://www.kessler-shop.de/kessler-sekt/